Allschlaraffisches Faust-Turney a.U. 131 (Francofurta)

 

Der Pilger

Goethes unvollendetes Gedicht 'Die Geheimnisse" hat mich schon in frühen
Jugendtagen beschäftigt. Gerade das Mystische und Fragmentarische, das
feierliche Hinführen zu einer Pforte, die zum Innersten eines geheimnisvollen
Klosters führt und die letztlich und endgültig verschlossen bleibt und ihre
Geheimnisse nicht preisgibt, hat meine Phantasie angeregt und mich in seinen
Bann gezogen. Welche Wunderwelt mag sich hinter diesem Tor verborgen
haben?

Ich las das Gedicht wieder, als ich längst Schlaraffe war und plötzlich
wurde mir klar, was im Innersten geschehen sein musste. Und ich ahnte:
Goethe, unser Ehrenschlaraffe Faust, konnte sein Gedicht schon deshalb
nicht vollenden, weil ihm mit fortschreitender Arbeit immer mehr bewusst
geworden sein muss, dass es nicht der Orden der Rosenkreuzer sein konnte,
der das Kloster bewohnte; diese Deutung seiner Vision konnte nicht zum Ziel
führen. In Wahrheit hat er wohl Schlaraffia vorausgesehen. Da dieses Phäno-
men sich aber der Welt und ihren profanen Begriffen entzieht und deshalb nur
von denen verstanden und somit beschrieben werden kann, die es miterlebt
und mit erfahren haben, musste das Gedicht an der Pforte enden: diese konnte
selbst Goethe nicht durchschreiten. Sie begann sich erst später, ein Menschen-
alter nach ihm, zu öffnen.

Eingeweihten steht das Tor heute offen. Ich will im folgenden versuchen, nach
der unvergleichlichen Einführung, die Goethe den Geheimnissen vorangestellt
hat, einige Strophen über das Innerste anzufügen, so wie es ein aufnahme-
bereiter Pilger bei einer ersten Begegnung erlebt haben könnte. Dabei musste
ich der Versuchung widerstehen, Goethes Zeilen und Strophen zu übernehmen,
sie hätten vielfach so gepasst, wie er sie schrieb. Eine Gemeinsamkeit ist jedoch
unvermeidbar: auch mein Gedicht muss fragmentarisch bleiben. Schließlich wäre
ein Gegenstand, der sich in nur wenigen Zeilen vollständig beschreiben ließe,
kaum unserer Aufmerksamkeit und schon gar nicht unseres Zuneigung wert.

Ein wunderbares Lied ist euch bereitet:
Vernehmt es gern und jeden ruft herbei!
Durch Berg' und Täler ist der Weg geleitet,
Hier ist der Blick beschränkt, dort wieder frei,
Und wenn der Pfad sacht in die Büsche gleitet,
So denket nicht, dass es ein Irrtum sei:
Wir wollen doch, wenn wir genug geklommen,
Zur rechten Zeit dem Ziele näher kommen.

Doch glaube keiner, dass mit allen Sinnen
Das ganze Lied er je enträtseln werde:
Gar viele müssen vieles hier gewinnen,
Gar manche Blüten bringt die Mutter Erde;
Der eine flieht mit düsterm Blick von hinnen,
Der andre weilt mit fröhlicher Gebärde:
Ein jeder soll nach seiner Lust genießen,
Für manchen Wandrer soll die Quelle fließen.

Goethe

***

Es naht die Nacht. Die Abendmatten liegen
Im letzten Licht, von goldnem Schein durchwebt.
Nur da, wo Wolken sich zum Gipfel schmiegen,
Strahlt hell die Burg, die stolz zum Himmel strebt.
Und krönt den Berg, dem sich die Schatten fügen,
Der sich mit Macht aus dunkler Ebne hebt.
Seht dort den Pilger, der zur Höhe schreitet
Von eines Ritters Freundeshand geleitet.

Die Beiden gehn, nach langen Tages Mühen,
Den steilen Pfad, der sie nach oben bringt,
Vorbei an Feldern, die im Herbstschmuck blühen,
An Rainen, wo der Vögel Lied erklingt.
Sie sehn der Sonne Pracht im Abendglühen,
Bevor der graue Nebel sie verschlingt
Und steigen rasch, da sie zum Gipfel heischen,
Um vor der Nacht das Burgtor zu erreichen.

Und wie sie immer mehr den Berg gewinnen,
Versinkt die Welt des Tals im Nebelmeer.
Der Himmel wölbt sich, als ein blaues Linnen
Mit klarem Licht wie Glas darüber her.
Es scheint der Alltag ganz ins Nichts zu rinnen:
Die Fülle hier, dort unten still und leer.
Der Pilger steigt in diese hohe Weite,
Das Herz erfüllt, die Hoffnung an der Seite.

Sie bleiben in der letzten Kehre stehen
und sehn die Burg, die auf dem Gipfel thront,
Der Welt entrückt, in fernen Himmelshöhen
Bald sind des steilen Weges Mühn belohnt.
Versonnen sieht man sie herüber sehen,
Wie mag er heißen, der dort oben wohnt?
Sie blicken staunend in der Welt Gefilde
Und freuen sich an jenem schönen Bilde.

Der Weg war weit, doch ist er bald erklommen.
Nun hebt der Ältere zu sprechen an:
Ihr zögert lang, bis ihr mit mir gekommen
Und Neugier über Zweifel Sieg gewann.
Ich heiß' Euch heut in unsrem Kreis willkommen
Als Freund und gern gesehner Pilgersmann.
Die Sorgen, die Euch in der Welt umfassen
Sie werden Euch dort oben ruhen lassen.

In dieser Burg lebt eine Tafelrunde
Die edlen, hohen Zielen sich geweiht.
Sie sippet hier, in jeder Abendstunde,
Wenn von des Tages Fesseln sie befreit,
Vereint in einem hehren Ritterbunde,
Trutzt sie den Läufen der modernen Zeit.
Und über allen diesen vielen Dingen
Hält ein Uhu beschützend seine Schwingen.

Denn das Prinzip, das unsrem Reyche waltet
Wird, in Uhu verkörpert, hier verehrt,
Da Tugend er, und Weisheit uns entfaltet
Als jener Geist, der stets von hohem Wert
Und der geheimnisvoll das Werk gestaltet
Das uns den Urgrund unsres Seiens lehrt:
Mal als Aha, Oho, sich zu uns wendet,
Das uns Erleuchtung wie Gehorsam spendet.

Und wenn der Abend sich dann wieder zeiget,
Die Arbeit also bald geschehen muss,
Wenn das Gemüt der Sassen höher steiget -
Dann gilt Uhu der Ritter erster Gruß.
Auch dem Aha darauf sich jeder neiget,
Bevor er einsinkt in der Sippung Fluss.
Er lässt von der Begeistrung heller Schwingen
Sich so in andrer Welten Sphären bringen.

Hier ist der Geist befreit und ohne Schranken,
Hier kann er schweifend durch die Welten ziehn
Hier darf er sich in jene Höhe ranken,
Die ihm sonst fern und nie erreichbar schien.
Und keine Schwere hindert den Gedanken
Auf seinem Flug zum Sternenhimmel hin.
Ihm wird es leicht, er kann des Himmels Weiten
Nun, wie er mag, nach seiner Lust durchschreiten.

Doch ungetrübte Freude kann nicht dauern.
Noch keinem blieb das ganze Glück allein.
Der Mutter Weggang müssen wir betrauern,
Uns floh Allmutter Pragas güldner Schein.
Drum brennt für sie in unsrer Burgen Mauern
Ein Licht, das wir den fernen Freunden weihn:
Die blaue Kerze wird hier angezündet,
Die Sehnsucht und Erinnerung verkündet.

Und fragst du mich, wie jene Runde heiße
Von der ich dir so vielerlei erzählte,
Die ich in höchsten Worten gerne preise,
Als die vom Schicksal mit dem Glück vermählte.
Vernimm des Namens allerschönste Weise:
Schlaraffia ist es, jene Auserwählte,
Die einst entstand, die Freundschaft vorzuleben,
Vereint in edlem, gleichgesinntem Streben.

Schon fällt die Nacht auf unsres Ritters Worte,
Das Mondlicht silberhell die Gegend füllt.
Da nähern sie sich endlich jener Pforte
Der ihres langen Weges Mühen gilt.
Doch seht! Was leuchtet da am trauten Orte,
In warmes Kerzen-Dämmerlicht gehüllt?
Sie sehen ein geheimnisvolles Zeichen:
Ist's fremd? Will es vertrauten Dingen gleichen?

Zwei Augen scheinen leuchtend dort zu schweben
Und wenn sie der Gestalt auch selbst entbehren,
Ist ihrem Blick doch jener Glanz gegeben,
Mit dem sie unsrer Freunde Andacht mehren.
So scheint dies körperlose Wesen voller Leben -
Dem Wissenden der Ruf, hier einzukehren.
Denn dort wo er des Uhus Augen findet,
Steht seine Burg, auf festen Fels gegründet.

Sie nahen rasch, von heißem Drang beflügelt,
Erwartet, denn man sah sie aus der Ferne.
Schon sinkt die Brücke, wird das Tor entriegelt,
Erscheint ein Ritter unter der Laterne,
Der seinen Gruß mit Händedruck besiegelt
Und er empfängt die beiden Wandrer gerne.
Er nimmt den Stab, die Gäste zu begleiten,
Und sie hinein ins Innerste zu leiten.

Der Vorburg Wärme lässt den Pilger spüren,
Wie sich sein Herz am warmen Frieden labt,
Weil hinter jeder ihrer vielen Türen,
Das Walten des Uhu dies Haus begabt.
Er lässt sich freudig zu dem Saale führen,
Wo gleich der Sippung muntres Rösslein trabt.
Was er dort sieht, versetzt ihn in Entzücken,
Es sei euch zu Gehör und zum Beglücken.

Er sieht, und kann sie nicht genugsam loben,
Die schlichte Würde, der sein Staunen gilt.
Die Wände tragen, an der Decke oben
Ein jedes Ritters prächtig Wappenschild
Und wie von zarter Hand dorthin gewoben,
Zieht sich ein Lichtstrahl, wunderhell und mild,
Zur Wandes Mitte, wo das Leuchten lohnet:
Uhu ist's, der symbolhaft selbst dort thronet.

Davor, im prächtig ausgeschmückten Saale,
Steht, von Geheimnis voll, ein hoher Thron.
Der, auf der Weisheit steigender Spirale,
Sich offenbart als allen Strebens Lohn.
Hier herrscht in Herrlichkeit und edler Schale
Und voller Huld, des Reychs erhabner Sohn
Die Stirne von der Weisheit Tau befeuchtet,
Regiert er, von Uhu dort selbst erleuchtet.

Und vor dem Thron, von dessen Gunst sie stammten,
Und würdevoll, wie's ihrem Stand gebührt,
Steht waltend da die Schar der Reychsbeamten,
Die dieses Hauses Amtsgeschäfte führt.
Ihr Trachten ruht, wie stets, auf dem Gesamten,
Das nur des Reyches Wohl zum Ziel erkürt.

Hier treibt Schlaraffias Holz die schönsten Triebe
Und blüht im Schmuck getreuer Söhne Liebe.
Man sieht an einer Tafel den Gestrengen,
Wie man den Junkermeister ehrend heißt,
Umgeben von der Jugend heißem Drängen,
Die er voll milder Strenge unterweist;
So dass sie schon, wenn noch mit zarten Klängen,
Uhu als Inbegriff der Tugend preist.
Er senkt der Weisheit Korn in warme Erde
Dass reiche Frucht aus ihm erwachsen werde.

Der Pilger staunt. Er sah noch keine Farben,
So voller Pracht, wie hier in diesem Bild,
Wo Reych um Reych, wie reifer Früchte Garben
Mit ihrem Glanz den Rittersaal gefüllt;
Wo Recken vieler Reyche freudig warben,
Damit ihr Traum von Schönheit so gestillt.
Die Seele labt sich froh an dem Geschehen,
Und auch das Auge hat genug zu sehen.

Schon braust es, gleich gewaltgen Orgeltönen:
Es ist das Abendlied, das da erschallt.
Gesungen von Uhus vereinten Söhnen,
Ein Klang von großer, donnernder Gewalt.
Da reißt's ihn fort, wie in der Brandung Dröhnen,
Gibt ihn erst frei, als es zum Schluss verhallt.
Als jene Strudel ihn dann schließlich lassen,
Kann er die Welt, die er nun sieht, nicht fassen.

Er schaut auf der Romantik blaue Blüten
Die da, in Büscheln, vor dem Throne blühn,
Sieht Recken kämpfen, Mägde Gänse hüten,
Fühlt Sehnsucht zu Zitronenblüten ziehn,
Hört Heldensagen, lauscht den Feenmythen:
Die Guten siegen und die Bösen fliehn.
Er sprengt die Fesseln, die den Sinn ihm banden
Und zieht verzaubert ein in Märchenlanden.

Er hört der Zaubertöne Silberklingen
Mit süßem Schall, der ihm das Herze rührt.
Dort hört ein einfach ländlich Lied er singen,
Da wird die große Oper aufgeführt.
Was jeder hat, will er zum Besten bringen
Und wird beklatscht, wie's seiner Tat gebührt.
Er sitzt und lauschet still den süßen Tönen
Und applaudiert voll Lust den Musensöhnen.

Schon klingt es hell in vielen Köstlichkeiten:
Ein Lächeln ist's, das heitrem Sinn entspringt.
Doch, wie die Ringe sich im Wasser breiten,
Wenn jäh ein Stein durch seine Glätte dringt,
Perlt es bald laut und fröhlich durch die Weiten,
Bis es erquickend in die Seelen sinkt.
Der Pilger kann sich nicht genug erfreuen
An des Humors kandierten Arzeneyen.

Bald leuchtet es, in hellen, blauen Strahlen,
Als ob die Kerzen tausendfach vermehrt.
Das Dunkel flieht, vergessen sind die Qualen,
Wenn Bruderherz zu Bruderherz sich kehrt
Und von des Reychs erwählten Idealen,
Strahlt Freundestreu im allerhöchsten Wert.
Die Ritter stehn und halten sich die Hände,
Damit der Freundschaft Kette niemals ende.

Der Pilger sieht's, und harret noch verwundert,
Es ist ihm fremd, wenn auch zugleich vertraut.
Er fühlt sich jung, von frischem Geist ermuntert,
Sein Herz getröstet, und zugleich erbaut.
Doch schon erfüllen ihn der Wünsche Hundert,
Selbst mitzutun, wo er jetzt nur geschaut.
Schon drängt es ihn, den Brüdern mitzuteilen:
Lasst mich für immer hier bei euch verweilen!

Es scheint ihm gar, als ob er Flügel trage,
Sein Trachten selbst aus allem diesen quillt.
Des Daseins Nacht wird plötzlich ihm zum Tage,
Weil sich sein Sinn mit frohem Hoffen füllt.
Schon naht Uhu, mit starkem Flügelschlage,
Mit offnen Fängen, denn er ist gewillt
In festem Griff ein neues Herz zu fassen.
Er packt's - und wird es nie und nimmer lassen.

* * *

Erlaubt mir hier, dass ich mein Lied beschließe,
Geblendet von der Wunder hellem Licht.
Obwohl ich gern die Quelle sprudeln ließe,
Die aus dem übervollem Herzen bricht,
Und nun, als Trank von ganz besondrer Süße,
Erquickt und labt und neue Kraft verspricht.
Erst die Begeisterung bringt zum Erblühen
Des Doppeldreiklangs schönste Melodien:

Es wird dem Wahren sich die Freundschaft zeigen,
Denn wahr fühlt der, der seine Freunde liebt.
Das Schöne geht mit Kunst einher im Reigen
Sie sind's, die uns die Gunst der Musen gibt.
Dem Guten aber ist Humor zu eigen,
Der nie verletzt und nie die Achtung trübt.
Dem, den die Götter sich zum Liebling koren.

Ist dieser Dreiklang in sein Herz geboren.
Wo viele solcher Töne fröhlich klingen,
Erschallt am Ende schließlich jenes Lied,
Das Kunde gibt von allen Wunderdingen,
Worin Schlaraffias Rittertafel blüht.
Wer solches hat, kann wahrlich Lieder singen,
In denen Lust und Leidenschaft erglüht.
Doch nur dem Herzen ist das Lied gegeben:
Nur wer es fühlt, kann es mit uns erleben.