Münchhausen-Turney a.U. 132 (Ob der Hamel

Wahrheit und Wirklichkeit

Wenn Münchausen erzählt, wie er auf einen Kononenkugel durch die Luft fliegt,
dem Mond einen Besuch abstattet oder eine vordere Pferdehälfte saufen läßt,
sagen Viele: Der lügt, ein Lügenbaron. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich glaube
an Münchhausens Geschichten. Meine Überzeugung ist, daß sie alle wahr sind.
Denn was, Freunde, ist das denn eigentlich: die Wahrheit. Was ist ihr Gegenteil,
ist es etwa die Lüge? Oder ist das Gegeteil der Wahrheit nicht vielmehr die
Wirklichkeit?
Verwechseln wir nicht die Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit? Gibt es da nicht
vieleicht zweierlei Welten:
Die karge, nackte Wirklichkeit, die uns frösteln läßt und vor der wir nur sicher
sind, wenn wir vor ihr flüchten zu der Wahrheit, der Welt unserer Sehnsüchte
und Träume.
Sind diese Träume Trugbilder, oder sind sie nicht auf ihre Art wahr? Kleiden sie
denn nicht die Wirklich erst so aus, daß sie für uns erträglich wird? Ist die uns um-
gebende Wirklichkeit denn nicht das Nebelmeer der profanen Sinne? Dort liegt im
Sonnenschein unserer Phantasie die Insel der Seeligen, unser Avalon, das immer
mehr entschwindet, je mehr wir es mit dem Verstand erfassen wollen, und dem wir
uns nur mit dem Herzen zu nähern imstande sind. Es gibt mehr Wahrheiten, als
die meisten ahnen.
Und wen interessiert sie eigentlich, die nackte, kalte Wirklichkeit?

Wenn der, den man Münchhausen hieß,
Uns von Geschichten wissen ließ,
Wie er einmal zum Mond geflogen;
Sich selbst aus einem Sumpf gezogen,
Indem er sich am Haarschopf packte,
Geschah’s, dass uns der Zweifel zwackte.
Wer grübelt da nicht: Sonderbar!
Ei, lügt der, oder spricht er wahr?
Je nach Erfahrung oder Stand
Hat man sein Urteil dann zur Hand.
Ein aufgeklärter Sinn verfügt:
Ich glaub es nicht! Der Bursche lügt.
Ein Skeptiker erschrickt und spricht:
Ach Gott: ich weiß es einfach nicht.
Der Weise aber hebt sein Haupt
Und ruft: Oh, glaubt, ihr Freunde, glaubt!
Glaubt, was Münchhausen niederschrieb,
Erfreut euch dran und habt ihn lieb!

Glaubt an die Kraft der Phantasie,
Die Mauern überwindet,
Glaubt an die Macht der Poesie
Die jenem Drange Flügeln lieh,
Und in die Höh’ entschwindet.
Glaubt an den Traum, glaubt die Vision,
Hört auf der Zauberflöte Ton.
Ergreift den bunten Schmetterling
Der durch die Lüfte gaukelt,
Ach, wenn man ihn im Netze fing,
Wenn so ein buntes Wunderding
Sanft durch den Äther schaukelt.
Man kriegt ihn nie! Da fliegt er hin!
Und trotzdem aber gibt es ihn
Und unsre Sinne tun ihn greifen
Um mit ihm durch die Welt zu streifen.
Gab uns Natur nicht warmes Blut,
Die Kraft nicht allen Sinnen,
Auf dass wir, mir der Herzen Glut
Und mit der Hoffnung frohem Mut
Der Wirklichkeit entrinnen.
Lasst diese Sinne immer sein
Wo alles wahr und schön und rein.

Was uns Münchhausen einst erzählt,
Das soll man uns nicht rauben.
Fern sei uns der, den Zweifel quält!
Darf man dem Freund nicht glauben
Nur, weil in den Naturgesetzen,
Von der Erfahrung, die wir schätzen,
Behauptet wird, das sei unmöglich.
Schlaraffen hört! Die irren kläglich.

Wahr ist, was ich als wahr berichte.
Die Wirklichkeit ist nämlich die Geschichte,
Von jenem tiefen, dunklen Moor,
Wo sich die Phantasie verlor.
Es greift sie, zieht sie fest nach unten
Und niemals mehr wird sie gefunden.
Ja, kein Gedanke und kein Streben
Kann sich zum Himmel mehr erheben.
Es zieht sie auf den Grund herab
In aller Phantasien Grab.
Dort ist es grau, dort ist es leer
Uns alles finster, ernst und schwer.
Drum lasst uns unsre Träumerein,
Uns dort der Wahrheit nahe sein.

Wenn mich zum Beispiel ein Uhu
Beschützt und führt in edler Ruh;
Ein Ross mich durch die Nächte trägt
(Selbst wenn es stinkt, wenn's sich bewegt);
Und wenn an meines Zieles Ort,
Steht eine Burg, der Freude Hort,
Bewohnt von edlen Rittersleut,
Die meine Ankunft riesig freut.
Ein Thron, erhellt, die Welt regiert,
Von Uhu leuchtend inspiriert.
Dann komme keiner zweifelnd mir herbei
Und rufe: Ach, Münchhausen Nummer zwei!
Klingt vieles ja auch ziemlich sonderbar,
Ich bleib dabei: was wahr ist, das ist wahr.
Und wahr ist das, was mir das Herz bewegt,
Und mich auf Flügeln in die Höhe trägt.
Wahr ist Schlaraffias bunte Wunderwelt
Es gibt AHA, OHO und Herrlichkeiten
Und wer's nicht glaubt und wem das nicht gefällt,
Soll durch profane Öde weiter schreiten.

Hinweg, ihr Zweifler, stehlt uns nicht die Zeit
Mit eurer blöden, kalten Wirklichkeit.
Fort mit der schnöden Rationalität!
Die soll uns unsrer Träume nicht berauben.
Lasst uns, solange diese Welt besteht
An des Münchhausens Lügenmärchen glauben.